Vor vielen Jahren, noch vor der Pandemie und noch bevor das Wort Long Covid überhaupt existierte, kam ich zum erstem Mal in Berührung mit der Erkrankung ME/CFS. Von "Fatigue" hatte ich natürlich schon gehört und als junge Assistenzärztin auch Patientinnen und Patienten betreut, die aufgrund einer Krebserkrankung und Chemotherapie unter dem "Chronischen Müdigkeitssyndrom" litten. Doch im Krankenhaus ist die Patientenbindung nicht so ausgeprägt und ich habe wenig vom Verlauf mitbekommen.
Von einem Mann, der wollte - aber nicht konnte
Eine Jahre später war ich frisch in der Hausarztmedizin tätig und betreute einen Mann, der den Arzt gewechselt hatte und zu mir in die Sprechstunde kam. Er war groß, schlank, sportlich, knapp 60 Jahre alt. Er kümmerte sich sehr gut um seine Gesundheit, rauchte nicht, trank keinen Alkohol und versuchte sich sportlich zu betätigen. Er war psychisch allerdings nicht gesund. Eine schwere Kindheit mit Gewalterfahrungen hinterließen ihre Spuren bis weit in das Erwachsenenalter. Er hatte immer wieder mit Therapeuten an dem Thema gearbeitet, weil er eine bleierne Erschöpfung aushalten musste, die er nicht los wurde.
„Ich hab 44 Jahre gearbeitet, Frau Doktor. Hart gearbeitet. Ich bin kaputt“, sagte er jedesmal, wenn wir uns sahen und über seine Probleme sprachen.
Alles Körperliche war schon abgeklärt worden, erklärte er mir. Er hätte ein bisschen Bluthochdruck, ansonsten war er „kerngesund“. Doch arbeiten gehen konnte er trotzdem nicht. Da war diese Müdigkeit, die man schon nicht mehr Müdigkeit nennen konnte. An manchen Tagen war es ok: „Ich konnte heute sogar spazieren gehen“, schilderte er dann seinen Tag, und war stolz darauf, weil er nicht nur auf der Couch lag „und nicht hochkam“.
"Das ist psychosomatisch!"
Ich rief in seiner ehemaligen Praxis an, um die Befunde anzufordern. Dabei konnte ich auch ein paar Sätze mit dem bis dahin betreuenden Hausarzt sprechen. "ME/CFS? Kenne ich nicht. Das ist psychosomatisch", sagte dieser. "Ich kenne ihn schon ewig, da kann man nichts machen."
Mir war das zu wenig. Natürlich hinterlässt eine schwierige Kindheit Narben auf der Seele und beeinflusst das weitere Leben immens. Je nachdem, wie schlimm das Trauma ist, vergehen die Schmerzen nie und die Narben reißen immer wieder auf. Aber in diesem Fall passte für mich dieser schubförmige, körperliche Verlauf nicht ins Bild. Der Mann war nicht depressiv, er war hochmotiviert, seiner Gesundheit etwas Gutes zu tun. Er quälte sich immer wieder aus dem Bett, um spazieren zu gehen, den Haushalt zu machen oder um für seine Frau zu kochen.
Das war keine lähmende Antriebslosigkeit, wie eine Depressiver sie hat. Er wollte - aber er konnte nicht.
Ich begann, mich durch seine Unterlagen zu arbeiten. Es stimmt, es gab fast keine Untersuchung, die nicht schon durchgeführt worden wäre. Seitenweise Laborbefunde, Bildgebungen, Gespräche noch und nöcher mit allen möglichen Fachdisziplinen. Mein Vorgänger war sehr gründlich vorgegangen.
Die PEM gab den Hinweis auf die Diagnose
Also recherchierte ich, und kam das erste Mal in Berührung mit der Diagnose ME/CFS. Und dachte: „Das passt doch alles!“ Jedes einzelne Symptom hätte von ihn niedergeschrieben worden sein können, vor allem die sogenannte postexertionelle Malaise war die Erklärung für sein Leid.
Ich erinnere mich, wie er mir einmal sagte: „Ich kann an einem Tag spazieren gehen. Langsam, ich überlaste mich bewusst nicht. Aber am nächsten Tag bin ich so erschöpft, als wäre ich Marathon gelaufen!“
Als er wieder bei mir in der Sprechstunde war, sprach ich ihn darauf an und erklärte ihm meine Verdachtsdiagnose. Er fühlte sich das erste Mal verstanden und fand auch, es passte alles zusammen. An einen Auslöser erinnerte er sich nicht, es sei einfach schleichend immer schlimmer geworden. Wir besprachen das Konzept des Pacings - dass er seine körperlichen Kräfte schonen soll und Überlastungen strikt vermeiden müsse.
Um nichts zu übersehen, schickte ich ihn aber doch noch in die Endokrinologie. Ich wollte sichergehen, dass er nicht eine unerkannte Nebennierenschwäche hatte, was schließlich aber ausgeschlossen werden konnte. Ein Neurologe unterschrieb meinen Verdacht, aber viel tun konnte auch er nicht.
Der Zustand meines Patienten veränderte sich nicht bedeutend, aber er lernte, mit seinen Kräften zu haushalten. Es schien ihm jedoch geholfen zu haben, dass er nun eine Diagnose hatte. Schließlich ging es in kleinen Schritten bergauf, als er offiziell nicht mehr arbeiten musste und in Rente ging.
Bitte ernst nehmen
Irgendwann wechselte ich den Arbeitgeber und verlor ihn aus den Augen. Doch vor wenigen Monaten traf ich zufällig seine Ehefrau. Wir hatten keine Zeit für einen längeren Plausch, aber es gehe so weit gut, sagte sie. Das freute mich enorm.
Der Mann wurde damals nicht ernst genommen, wahrscheinlich aus Unwissenheit. Die Diagnose war einfach zu selten. Ich als junge Ärztin mit meinen Ideen wurde ebenfalls nicht ernst genommen. Durch die Pandemie und Long Covid hat die Zahl der Fälle von ME/CFS massiv zugenommen. Ich kann nur hoffen, dass Betroffene inzwischen leichter Hilfe finden.
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Bild: Gerd Altmann, Pixabay